Ist der Mensch von Natur aus eher gut oder eher böse? „Im Grunde gut“ sagt der Historiker Rutger Bregman in seinem aktuellen – und lesenswerten – Buch, das in der deutschen Übersetzung diesen Titel trägt. Er weiß, dass er damit unseren Intuitionen krass widerspricht.
Natürlich lässt sich die Frage, ob der Mensch eher gut oder böse ist, so nicht sinnvoll beantworten. Es geht aber genauer. Diese Internetseite beleuchtet Aspekte einer evolutionären Moralpsychologie.
Was macht uns Menschen zu moralischen Wesen?
Wenn ich diese Frage als Lehrbeauftragter für Ethik Studierenden gestellt habe, kam als Antwort verlässlich:
- die Erziehung, Sozialisation
- „weil Zusammenleben sonst nicht möglich ist“
- Religion und ihre Gebote.
Aber verfügt der Mensch nicht natürlicherweise über moralische Kompetenzen?
Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt meint ja und macht sechs moralische Intuitionen aus, die Menschen aus allen Kulturen kennen und die darum eine natürliche – evolutionäre – Grundlage haben werden:
- Wir können Mitgefühl empfinden
- Wir haben einen grundlegenden Sinn für Gerechtigkeit bzw. Fairness
- Wir sind kooperationsfähig und ‑freudig in „unserer“ Gruppe
- Wir lieben Freiheit
- Wir haben einen Sinn für Heiligkeit und Reinheit
- Wir achten kulturelles Wissen und persönliche Autorität bzw. Kompetenz.
Wir verstehen viel davon, wie wir Menschen ticken, wenn wir diese sechs moralischen Kompetenzen verstehen. Wir begreifen dann aber auch, wo die Schwachpunkte des Menschen liegen, die wir nur durch Vernunft und Ethik überwinden können.
Die Behauptung ist ziemlich stark: Menschen aller Kulturen haben Rezeptoren für diese sechs Bedürfnisse, Gefühle, Intuitionen. Wir verfügen über sechs Empfangskanäle (analog zu den Geschmacksempfindungen) für moralisch Relevantes.
Literatur: Jonathan Haidt, The rightous mind. Why good people are divided by politics and religion, London: Allen Lane, 2012.
I. Erste Ebene: Moralische Intuitionen
Moral kommt demnach keineswegs nur und erst durch Kultur in die Welt. Allerdings werden jene sechs Dispositionen in jeder Kultur – zweite Ebene – unterschiedlich verstärkt oder gedämpft, spezifiziert oder verallgemeinert. Also entsteht in jeder Kultur eine besondere Matrix, die den Eindruck erzeugen kann, Moral wäre kulturell bedingt. Das ist sie aber nur insoweit, als die Kultur mit den vorhandenen „moralischen Gefühlen“ kreativ arbeitet.
Auf einer dritten Ebene können die beiden anderen Ebenen, die überwiegend unbewusst und durch Gewohnheit wirksam sind, kritisch beleuchtet werden – sei es durch den Einzelnen in Dilemmasituationen oder durch philosophische Reflexion oder religiöse Lehre. Hier findet eine Begründung, Ausgestaltung, Gewichtung statt, diesmal durch sprachliche Ausformulierung und/oder Argumentation. Oft werden ethische Reflexionen nötig, um auf neue Fragestellungen reagieren zu können; z.B. mögen Menschen eine gewisse Hemmung haben, Tiere zu töten, verfügen aber eher nicht über einen intuitiven Sinn für Artenschutz. Erst recht gibt es keine Intuitionen bezüglich des Klimaschutzes. Wir bedürfen der philosophisch-ethischen Reflexion.
Im Folgenden geht es um nicht mehr und nicht weniger als einigermaßen plausibel zu machen, dass es sich bei allen sechs oben genannten Aspekten um natürliche moralische Dispositionen handelt.
1. Mitgefühl/Fürsorge versus Schaden
Unstrittig dürfte das Phänomen sein, dass Menschen in der Lage sind mitzufühlen. Diese Fähigkeit lässt sich in ihrem Kern evolutionär leicht erklären. Dass wir – wie andere Säugetiere auch – Fürsorge empfinden sollten für den Nachwuchs, ist plausibel. Da der menschliche Nachwuchs extrem lange auf Fürsorge angewiesen ist, ist dies besonders wichtig. Der Fürsorgeimpuls ist tief in uns verankert, u. a. durch das von Konrad Lorenz so genannte „Kindchenschema“[1] (Pausbacken, großer Hinterkopf etc.), das uns als „süß“ anrührt. Dies betrifft auch die Väter und auch weitere Verwandte und Bezugspersonen.[2]
Wir fühlen aber auch mit, wenn Menschen, denen wir nahestehen, stürzen oder sich verletzen und versuchen spontan, ihnen zu helfen. Bei fremden Menschen ist dieser Impuls vielleicht schwächer, aber vor allem, wenn wir einen Unfallhergang sehen, erleben, wie Menschen (unverschuldet) in eine Notlage kommen, dann reagieren wir mitfühlend, vielleicht auch erschrocken und versuchen zu helfen.[3] Adam Smith, der wohl als erster die moralischen Gefühle umfassend zum Thema machte in seinem Werk The Theory of Moral Sentiments (1. Auflage 1759) beginnt mit den Worten:
Mag man den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil draus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein. Ein Prinzip dieser Art ist das Erbarmen oder das Mitleid, das Gefühl, das wir für das Elend anderer empfinden, sobald wir dieses entweder selbst sehen, oder sobald es uns lebhaft geschildert wird, daß wir es nachfühlen können. (Deutsche Übersetzung von Walther Eckstein, Meiner Verlag Hamburg 1994 S.1)
Die Thematik von Empathie, Mitgefühl und Hilfeleistung ist allerdings sehr komplex und wird hier näher beleuchtet.
Dass wir für unsere Kinder Fürsorge empfinden, ist natürlich evolutionär plausibel. Aber warum sollten wir bei anderen Menschen mitfühlen? Hier kommt die 2. moralische Intuition ins Spiel. Wir sind als Menschen nämlich virtuose reziproke Altruisten. Von daher ist es evolutionär vorteilhaft, dass wir Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auch für Erwachsene empfinden, insbesondere für alle, die wir kennen.
[1] Konrad Lorenz: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung. In: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (2), 1943, S. 235–409.
[2] Sarah Bluffer Hrdy: Mütter und Andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat, Berlin: Berlin-Verlag, 2009.
[3] Vgl. etwa Hans-Werner Bierhoff: Psychologie prosozialen Verhaltens. Warum wir anderen helfen. 2., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer (Kohlhammer-Urban-Taschenbücher, 418), 2010.
2. Fairness versus Ungerechtigkeit
In allen Kulturen gibt es die Bereitschaft, andere, die zum „Wir“ gehören, zu unterstützen und ihnen zu helfen. Und es gibt zahlreiche Gelegenheiten zum Geben bzw. Helfen. Dieses geschieht in dem möglicherweise unbewussten, „impliziten“ Wissen, dass der oder die andere dies sicher bei Gelegenheit in der ein oder anderen Form erwidern wird. Wenn wir reichlich Äpfel haben, ist es nicht nur nett, sondern auch klug, sie in der Nachbarschaft zu verteilen. Wenn in ursprünglichen Sammlerinnen-Jäger-Kulturen ein Tier erjagt wurde, so wurde dieses geteilt. Noch bevor Menschen sesshaft wurden, haben sie zum Schutz einfache Hütten gebaut, viel Gelegenheit sich auszuhelfen, genauso wie bei der Kinderbetreuung, geschweige denn bei Verletzungen etc. Sie laden eine Bekannte zu sich nach Hause zum Kaffeetrinken ein. Sie verbringen eine nette Zeit. Werden Sie Ihre Bekannte bei der nächsten Gelegenheit wieder einladen? Werden Sie nicht erwarten, dass sie jetzt mal „dran ist“? Wir haben einen natürlichen Sinn für ein Gleichgewicht von Geben und Nehmen, von Gegenseitigkeit, Reziprozität.
Do ut des. – Gibst du mir, gebe ich dir. – Wie du mir, so ich dir. – Tit for Tat.
Interessanterweise handelt es sich hier nicht um moralische Aufforderungen, sondern eher um das Konstatieren des selbstverständlichen Gebens und Nehmens zwischen Menschen.
In allen Kulturen gibt es die Bereitschaft, andere, die zu unserem „Wir“ gehören, zu unterstützen und ihnen zu helfen.
Wie konnte sich ein so soziales Verhalten evolutionär herausbilden und stabil andauern? Hatte nicht immer der, der zwar nimmt, aber nicht gibt, einen Vorteil? Die Antwort liegt auf der Hand. Der- oder diejenige bekam sozialen Druck. Sollte jemand nicht bereit sein zu fairem Ausgleichen, findet sich in allen Kulturen die Bereitschaft, den „Betrüger“ zu bestrafen, etwa durch Ausgrenzung, die mit Klatsch und Tratsch beginnen kann.[1] Wenn Sie sich prüfen: Haben Sie nicht auch das Bedürfnis, über irgendeine Rücksichtslosigkeit, die Ihnen widerfahren ist, mit jemandem zu reden, um ihrem Ärger Luft zu machen?
Computerprogramme erproben Kooperation
In einem Kooperationsspiel, das mit Hilfe des Computers in beliebig vielen Runden durchgeführt werden kann, lässt sich der Erfolg von Strategien simulieren. Nehmen wir eine Kooperationsbeziehung an, in der zwei Personen immer wieder aufs Neue entscheiden müssen, ob sie bereit sind eine Gabe oder Leistung erbringen, noch nicht wissend, ob der andere sich dieses Mal auch für eine Gabe entschieden hat.
Im Jahr 1979 veranstaltete der Politologe Robert Axelrod ein berühmt gewordenes Turnier, an dem 14 kluge Personen jeweils ein Computerprogramm ins Spiel brachten[2]. Es gewann das kürzeste Programm mit dem Spitznamen „Tit for Tat“, „Wie du mir, so ich dir“. Es stammte von einem Psychologen und Philosophen, Anatol Rapoport, und ist denkbar simpel. Es sagt: Kooperiere beim ersten Zug, danach tu immer das, was der andere tut/im letzten Zug getan hat. Es beruht auf wenigen Prinzipien: 1. Betrüge nie als erster, es beginnt mit Kooperation und bleibt so lange bei der Kooperation bis der Gegner mogelt. 2. Sei provozierbar: Wenn dein Gegner mogelt, bestrafe ihn. 3. Sei nicht nachtragend, räche dich nur genau einmal. Wenn dein Partner zur Kooperation zurückkehrt, tue es auch.
Das Verblüffende am Sieg dieses Programmes ist, dass es im Duell nie gewinnen kann. Es betrügt den anderen ja nicht, es versucht nicht, besonders clever zu sein. Es gewinnt dadurch, dass es optimal mit anderen kooperiert, während die anderen versuchen sich gegenseitig auszutricksen und währenddessen selbst um den Ertrag bringen. Der wahre Egoist kooperiert.
Wir scheinen als Menschen bestens eingerichtet zu sein, um optimal zu kooperieren.
- Wie sich dies zu weiteren Gerechtigkeitsvorstellungen entwickeln kann, wird hier erörtert.
- Auf die Weiterentwicklungen der spieltheoretischen Experimente geht dieser Beitrag ein.
[1] Vgl. grundlegend: Robert Trivers: The evolution of reciprocal altruism. In: The Quarterly Review of Biology 46 (1), S. 35–57, 1971.
[2] Ich folge hier der Darstellung von Douglas R. Hofstadter: Die Evolution kooperativen Verhaltens. In: Spektrum der Wissenschaft 1983 (8), S. 8–14 und 1983 (9) S. 8–12.
3. Loyalität/Kooperation versus Untreue/Verrat
Über die Kooperation bzw. gegenseitige Hilfeleistung zwischen Einzelnen hinaus, kennt jede menschliche Gesellschaft auch eine Kooperation in der Gruppe. Für manche Aufgaben von der Mammutjagd bis hin zu gemeinsamen Festen braucht es Kooperation, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Hier geht es um Gemeinsinn, Kooperation, selbstverständliche Solidarität. Selbst in unserer relativ individualistischen Gesellschaft gibt es das Bedürfnis nach dem Erleben eines Wirgefühls, sei es als Fan einer Mannschaft oder Mitglied eines Vereins oder einer Partei etc. Manchmal wird uns das erst bewusst, wenn unsere Gruppe angegriffen oder kritisiert wird, seien es nun „die Schwaben“, „die Fußballfans“ u.v.m.
„Wir sind Gruppenwesen. Wir gehören nicht einfach zur Menschheit, sondern geben unseren eigenen Leuten den Vorzug und lassen uns leicht dazu überreden, uns gegen Außenstehende zu wenden.“[1]
Während die beiden erstgenannten moralischen Intuitionen bei einer ethischen Reflexion weitgehend eine positive Würdigung erfahren können, haben wir es bei der Loyalität mit einer aus ethischer Sicht geradezu gefährlichen Neigung zu tun. Kooperation in der Gruppe impliziert auch die Bereitschaft, sich ggf. gegen eine andere Gruppe zu behaupten, sich über sie zu erheben, sie zu bekämpfen.[2] Die allgemeinmenschliche Tendenz zur Identifikation mit einer Gruppe macht z.B. nationales, rassistisches, ethnozentrisches Denken so stark und so gefährlich. Ich komme darauf zurück.
[1] Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit. Unter Mitarbeit von Michael Bischoff. München: Hanser Berlin 2019, S. 58.
[2] Vgl. die umfassende Darstellung von David Berreby: Us and them. The science of identity. Chicago: University of Chicago Press 2008.
4. Freiheit versus Unterdrückung
Freiheit ist ein großes Wort. Als ursprünglichen moralischen Reflex sehe ich zunächst die Bereitschaft zum Widerstand und Kampf bei lebensbedrohlicher und lebenseinschränkender Bedrückung. Natürlich kann der Affekt, zu dem Menschen diesbezüglich geneigt sind, kulturell transformiert werden und womöglich dazu führen, dass ich keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen akzeptieren möchte. Evolutionär adaptiv ist es hingegen, wenn irgend vermeidbar, niemandem zu gestatten, meine elementaren Lebensbedürfnisse einzuschränken.
Stammesgesellschaften nivellieren aufkommende Machtanmaßungen durch Spott, Tratsch, Verweigerung oder drastischere Maßnahmen. Sollte es sogar zu offener Repression kommen, wird Widerstand geleistet. Seitdem Gesellschaften komplexer geworden sind, seitdem – insbesondere durch die Sesshaftigkeit – einzelne Personen Güter anhäufen können, sich Ressourcen sichern können, müssen Menschen häufiger Unterdrückung erleiden, sich mit Ausbeutung und Drangsalierung abfinden, mit denen sie sich in einer Sammlerinnen-Jäger-Gesellschaft nie abgefunden hätten. Denn in dieser gab es nicht nur (wenn überhaupt!) einen chief, sondern auch einen besten Jäger, eine Heilerin, eine alte Autoritätsperson – und die jungen Männer, die bereit gewesen wären zur offenen Rebellion.
5. Heiligkeit/Reinheit versus Entehrung/Tabubruch
Nicht unmittelbar einleuchtend ist für WEIRD-Menschen (Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic[1]), inwiefern Heiligkeit eine moralische Intuition sein könnte. Haidt versucht durch einige Fragen plausibel zu machen, dass auch „wir“ Reinheit als Wert empfinden und empfindlich nicht nur auf physische, sondern auch „moralische Verunreinigung“ reagieren:
Würden Sie mit einer alten amerikanischen Flagge das Klo putzen?
Würden Sie Hitlers Pullover tragen?
Würden Sie aus Gläsern Saddam Husseins trinken?
Die Ablehnung offenbart die Intuition eines moralischen Ekels und entsprechendes lässt sich als Kehrseite für die Existenz des Empfindens für Reinheit und Heiligkeit zeigen.[2] Dies nur zur Illustration, dass wir alle ein Sensorium für Heiliges, für Reinheit etc. haben. Ich komme darauf zurück.
[1] Vgl. dazu jetzt das monumentale Werk von Joseph Henrich: The WEIRDest people in the world. How the West became psychologically peculiar and particularly prosperous. First edition. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2020.
[2] Vgl. Haidt, a.a.O. Der 5. Abschnitt des 7. Kapitels lautet „The Sanctity/Degradation Foundation“.
6. Wissen/Kompetenz versus Ignoranz
In der Stammesgeschichte des Menschen hat die kulturelle Lernfähigkeit eine zunehmende Rolle gespielt. Menschen sind biologisch optimiert, kulturell zu lernen und zu tradieren.[1] Wir haben Respekt vor kulturellem Wissen. Seit der ersten Steinbearbeitung waren Individuen im Vorteil, die kulturell lernfähiger waren. Je komplexer eine Kultur wurde, um so vorteilhafter war es, kulturell lernfähig zu sein, z.B. Dinge nachmachen zu können. Dazu war es übrigens vorteilhaft, sich in die Intentionen des Lehrmeisters hineinversetzen zu können. Damit sind wir bei einer grundlegenden Fähigkeit auch für das Mitgefühl: Sich-in-andere-Hineinversetzen-Können. „Er will offenbar mit dem Pfeilgift nicht in Hautkontakt kommen“; „sie achtet genau auf die Blätter der Knollenpflanze“ usw. Das alles setzt voraus, dass es klüger ist, etwas so zu machen wie es die Erfahrenen vormachen und nicht einfach selbst auszuprobieren (obwohl es dazu immer noch viel Spielraum gibt, Kinder achten dabei darauf, ob die Bezugsperson beunruhigt schaut oder nicht). Joseph Henrich bringt beeindruckende Beispiele für kulturelles Wissen: Z.B. ist Maniok/Cassava zunächst giftig; wird es zerkleinert oder geschabt, reduziert sich der Giftgehalt um 20%, wird es anschließend gewässert, insgesamt um 70%, aber erst wenn der Sud gekocht wird, ist er genießbar, und der Brei, wenn man noch drei Tage wartet. Es gibt interessante Nahrungstabus insbesondere für Schwangere, bei genauerem wissenschaftlichem Hinsehen stellt sich heraus, dass diese Tabus sehr sinnvoll sind, weil die entsprechenden Lebensmittel den Embryo schädigen können. Es ist gut, wenn man Reinheitsgebote und Tabus bei der Nahrungszubereitung beachtet. Sammlerinnen-Jäger-Gesellschaften speichern enorm viel Wissen in ihrer Kultur.
Frappierend sind Intelligenztests mit Kleinkindern und jungen Schimpansen. Kinder machen etwas genau nach, auch wenn sie sehen könn(t)en, dass es so nicht nötig ist. Schimpansen wählen den kürzeren Weg. Sie haben weniger Respekt vor dem Vormacher. Es erscheint paradox, aber den Menschen ist es natürlich geworden, Kultur zu haben. Die Biologie weist über die Biologie hinaus. Deswegen ist es auch so absurd, wenn menschliche Natur und Kultur gegeneinander ausgespielt werden.
Diese sechste Intuition, sollte sich in unserer wissenschaftlich geprägten Kultur im Respekt vor Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnis wiederfinden lassen.
Man kann fragen, ob es hier sinnvoll ist von einer moralischen Intuition zu sprechen. Denn es ist ja ein Gebot der Klugheit, Gelegenheiten zu lernen wahrzunehmen. Aber die Achtung gegenüber Experten und fachlichen Autoritäten wird in der Regel in der Erziehung als Wert vermittelt. Das Gebot der Klugheit musste evolutionär durch Emotionen abgesichert werden. Lehrkräfte, aber auch Ehepartner kann es regelrecht aggressiv machen, wenn etwas „falsch“ gemacht wird – und das klingt dann meist nach nichts anderem als moralischer Empörung.[2]
[1] Vgl. die umfassende Darstellung von Joseph Henrich: The secret of our success. How culture is driving human evolution, domesticating our species, and making us smarter. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2015.
[2] An diesem Punkt weiche ich am stärksten von Haidt ab. Haidt überschreibt diese moralische Intuition mit Authority/Betrayal (Autorität/Verrat) und argumentiert, dass Menschen sich zu Loyalität gegenüber Autoritäten verpflichtet fühlen, auch wenn dies in westlichen Gesellschaften schwach ausgeprägt sei. Er thematisiert hier Hierarchien und Dominanz. Allerdings ist dies als natürliche Intuition nicht plausibel, da Sammlerinnen-Jäger-Kulturen tendenziell egalitär organisiert sind.
Die folgende Tabelle zeigt die sechs moralischen Intuitionen und ihre adaptiven Funktionen. Dementsprechend unterscheiden wir Tugenden und „Laster“.
Die hier referierte Hypothese besagt, dass diese sechs moralischen Intuitionen biologisch-evolutionär deutbar sind, also einen Überlebens- (bzw. Fortpflanzungsvorteil) für die frühen Vertreter von Homo sapiens dargestellt haben. Und teilweise ergänzen sie sich perfekt:
Evolutionäre Interaktionen
So war die Ausweitung des Mitgefühls (Intuition 1) auf alle persönlich bekannten Menschen, evolutionär vorteilhaft, weil sich dadurch reziproke Beziehungen verstärken (nämlich: andere sich verpflichtet fühlen und so Austauschbeziehungen entstehen) (Intuition 2). Wenn jemand das Kind der Nachbarin rettet oder auch nur mal auf es aufpasst, „erntet“ sie Dankbarkeit. Menschen sind auffällig hilfsbereit gegenüber allen Menschen, die sie persönlich kennen. Eine andere Interaktion hatte ich angedeutet im Blick auf das Mitgefühl: Mich in einen anderen hineinzuversetzen macht mich nicht nur hilfsbereiter, sondern auch lernfähiger, wenn mir jemand einen handwerklichen Vorgang demonstriert (Intuition 6: Kulturelle Kompetenz).
Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie aufschlussreich eine solche Betrachtung sein kann, nenne ich ein Beispiel für mögliche Kombinationen unserer moralischen Intuitionen.
Kombinationen von moralischen Intuitionen
Wir führen in Solidarität (3) einen Befreiungskampf (4) für Gerechtigkeit (2), die uns „heilig“ ist (5); dies tun wir aus mitfühlender (1) Solidarität mit den Unterdrückten, die empörendes Unrecht (2) erleiden. Und vermutlich ist ein entsprechender philosophischer Überbau mit von der Partie, in den wir uns intensiv einarbeiten müssen, um mitreden zu können (6), – und im Idealfall auch ethische Reflexion.
Michael Tomasello hat das Zusammenspiel verschiedener moralischer Motive schön zusammengefasst: Menschliche Moralität ist kein Monolith, sondern ein Patchwork. Menschen gehen in jede soziale Interaktion mit egoistischen Ich-Motiven, mit einfühlenden Du-Motiven, gruppenbezogenen Wir-Motiven, egalitären Motiven (Freiheit!) und einer Tendenz, allen kulturellen Normen zu folgen, die gerade gelten.[1] Es fehlen gegenüber Haidt nur die Aspekte Heiligkeit/Reinheit, was angesichts der Besonderheiten dieses Aspektes gut verständlich ist, es fehlt aber auch der Aspekt der Gerechtigkeit, also des reziproken Altruismus, was schwer verständlich ist und seine Rekonstruktion der Evolution menschlicher Moralität an einem sehr wesentlichen Punkt schwächt. Mehr dazu hier: Reziproker Altruismus.
[1] „Human morality is not a monolith but a motley, patched together from a variety of different sources, under different ecological pressures, at different periods during the several million years of human evolution (Sinnott-Armstrong and Wheatley, 2012). Human beings today thus enter into each and every social interaction with selfish me-motives, sympathetic you-motives, egalitarian motives, groupminded we-motives, and a tendency to follow whatever cultural norms are in effect. In situations of deprivation, most of us would be selfish. When someone else is in dire need, most of us would be generous. In situations of equal collaboration, most of us would be egalitarian. […] All of these motives are always in some sense already there; the only question is which one, or ones, will win the day in particular situations.” Michael Tomasello: A natural history of human morality, Cambridge (Mass.) – London 2016, S. 128.
Gruppe (3) und Reinheit (5)
An unserer Kooperationsfähigkeit lässt sich illustrieren, wie die verschiedenen moralischen Intuitionen interagieren und sich gegenseitig verstärken können, nämlich z.B. das Gruppengefühl (3) und das Gefühl für Reinheit (5).
Menschen fühlen sich womöglich angeekelt von anderen, die heilige Lebewesen essen (z.B. Kühe) oder aber ekelige Dinge essen (wie Ratten). Eine Gehirnregion, die Insula, ist besonders aktiv, wenn wir uns ekeln – in allen Intensitätsgraden. „Sich abgestoßen fühlen von Menschen einer bestimmten Gruppe, weil sie widerliche oder aber heilige Dinge essen, sich mit ranzigen Stoffen einreiben und sich in skandalöser Weise kleiden, das sind Dinge – wie Sapolsky schreibt, in die „the insula can sink its teeth into“. Sapolsky meint also: die Insula kann sich so richtig austoben und sich festbeißen daran, was für ekeliges Zeug die essen und wie „ekelig“ die riechen.[1] Mein Gruppendenken kann sich mit Ekel gegenüber Fremden verbinden und beides verstärkt sich gegenseitig.
Gruppe (3) und kulturelle Überlieferung (6)
Eine weitere Querbeziehung, die das Gruppendenken (3) nutzen kann, um sich zu stärken, ist die zum Respekt vor kulturellem Wissen (6). „Bei uns macht man das so!“ Die kulturellen Besonderheiten, gerade wenn sie etwas „abseitig“ sind, können der Abgrenzung dienen und bieten dem Lerneifer Stoff. Je mehr wir unsere eigenen Regeln, unseren eigenen Dialekt, unsere besonderen Tabus haben, desto fremder werden die anderen und desto mehr stärkt sich unser Gruppengefühl: ein sich verstärkender Regelkreis.
[1] Robert Sapolsky: Behave. The biology of humans at our best and worst, London 2018 (dt. Gewalt und Mitgefühl), “Feeling disgusted by Them because they eat repulsive, sacred, or adorable things, slather themselves with rancid scents, dress in scandalous ways—these are things the insula can sink its teeth into.” (S. 398f) Auch Tabus können zur Abgrenzung der Gruppen dienen.
II. Zweite Ebene: Kulturelle Gewichtung der moralischen Intuitionen
Kulturen unterscheiden sich darin, wie sie die sechs Aspekte inhaltlich füllen.
- Wer ist wir? (3)
- Welchen konkreten Bedarf an Kooperation haben sie? (2+3)
- Was ist tabu bzw. heilig, bzw. rein? (5)
- Was glauben sie über die Welt, gehört also zu ihrem kulturellen Wissens- und Lernbestand? (6)
Und Kulturen unterscheiden sich darin, wie sie die sechs Aspekte gewichten.
Beispiel: Überbewertung der Gruppe
Eine sehr krude Überbetonung eines Wertes stellt das Prinzip dar:
„Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Die Gruppe wird im Nationalsozialismus über das Individuum und seine Freiheit gestellt. Wo bleibt Mitgefühl (1)? Wo bleibt Fairness (2)? Wo bleibt Freiheit (4)? Das über all dies dominierende Wirgefühl wird allerdings gestützt durch die Kategorien Heiligkeit und Reinheit. Schon in seiner Wahlkampfrede am 10. Februar 1933 im Sportpalast spricht Adolf Hitler von der „Wiederherstellung der Sauberkeit in unserem Volk, Sauberkeit auf allen Gebieten unseres Lebens, der Sauberkeit unserer Verwaltung, der Sauberkeit im öffentlichen Leben, aber auch der Sauberkeit in unserer Kultur.“[1] Die Nation galt als „heilig“. Vor allem aber wurde die Reinheit des arischen Blutes propagiert, was zum Genozid an allen, die man nicht dazu rechnete, führen sollte. Ein auf die Nation umgedeutetes Wirgefühl plus eine ideologische Konzeption von der Reinheit dieses Wir, konnten eine zeitlang triumphieren über die volle Menschlichkeit, in der Mitgefühl ebenso wie Gerechtigkeit und Freiheit ihren Platz haben.
Im Dritten Reich sagte das Gewissen nicht: Es ist falsch zu töten, es sagte: Es ist falsch, nicht zu töten, wie Hannah Arendt es so präzise formuliert hat. Ermöglicht wurde dies durch eine Verschiebung in der Sprache, die sich in ihrer Reinform in Mein Kampf zeigt, wo es kein »Du« gibt, nur ein »Ich« und ein »Wir«, wodurch aus dem »Sie« ein »Es« gemacht werden kann. Im »Du« lag der Anstand. Im »Es« lag die Bösartigkeit.
Aber es waren »Wir«, die sie vollstreckten.[2]„… wer werden wir an dem Tag sein, an dem unser Anstand auf die Probe gestellt wird? Werden wir es wagen, dem zu widersprechen, was alle denken, was unsere Freunde, Nachbarn und Kollegen denken, und darauf beharren, dass sie unanständig sind, während wir selbst anständig sind? Groß ist die Kraft des Wir, fast unzerreißbar seine Fesseln, und im Grunde können wir nur hoffen, dass unser Wir ein gutes Wir ist. Denn wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines »Sie«, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können, es wird in Gestalt eines »Wir« kommen. Es wird als »das Richtige« kommen.[3]
So Karl-Ove Knausgård in seinem großen Werk Kämpfen.
Das Wirgefühl ist wohl die problematischste (moralische) Intuition, die wir besitzen. Es muss darum gehen, das Wirgefühl zu erweitern auf die gesamte Menschheit; und auch die Tiere sollten wir in unser Mitgefühl einbeziehen. Darwin hat einen solchen kulturellen Entwicklungsprozess als plausibel und naheliegend beschrieben:
Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung jeden Einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder desselben Volkes auszudehnen habe. Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen. Wenn diese Menschen sich in ihrem Äußeren und ihren Gewohnheiten bedeutend von ihm unterscheiden, so dauert es, wie uns leider die Erfahrung lehrt, lange, bevor er sie als seine Mitmenschen betrachten lernt. Wohlwollen über die Schranken der Menschheit hinaus, d.h. Menschlichkeit gegen die Tiere, scheint eines der am spätesten erworbenen sittlichen Güter zu sein.[4]
Was haben wir bis jetzt erreicht?
Wir haben die Kernelemente des moralischen Empfindens identifiziert, die jeweils mit bestimmten Emotionen verbunden sind.
Wir verstehen die Quellen unserer Moral besser, ihren evolutionären Sinn und ihre Beschränkungen und Gefahren.
Wir erkennen die Herausforderungen für eine Ethik, die weit mehr ist als die Summe von moralischen Intuitionen. In Gesellschaft und Politik ist in jedem Fall mit den genannten natürlichen Intuitionen zu rechnen.
[1] Zitiert nach Uwe Wittstock: Februar 33. Der Winter der Literatur, München C.H.Beck 2021, S.89.
[2] Karl-Ove Knausgård: Kämpfen, München: btb Verlag, 2018, S. 898.
[3] Ebd. S. 900.
[4] Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen, Stuttgart: Kröner, 4. Aufl. 1982, S. 155f. Übersetzung der 2. Auflage von 1874, dort S. 122–123. Vgl. hier den Beitrag zu diesem Werk Darwins.