Explo­si­ve Moderne

Offen­bar bestehen die Ver­la­ge auf ver­kaufs­för­dern­den Titeln wie Welt in Auf­ruhr oder eben: Explo­si­ve Moder­ne.

Im die­sem Fall ist die­ser Stra­te­gie aller­dings Erfolg zu wün­schen. Denn das Buch der Sozio­lo­gin Eva Ill­ouz ist eine bedeut­sa­me Ana­ly­se der Rele­vanz von Emo­tio­nen im poli­ti­schen Raum. Sach­ge­mä­ßer wäre somit aller­dings ein so unspek­ta­ku­lä­rer Titel wie „Poli­ti­sche Gefüh­le“ gewe­sen. Denn es geht tat­säch­lich um ganz ähn­li­che Phä­no­me­ne wie sie auch die Phi­lo­so­phin Mar­tha Nuss­baum in ihrem bedeu­ten­den Buch „Poli­ti­sche Emo­tio­nen“ the­ma­ti­siert hat. Bei­de Autorin­nen erör­tern poli­tisch und gesell­schaft­lich äußerst rele­van­te Gefüh­le, näm­lich: Angst, Zorn, Scham und Beschä­mung, Neid und, ja, Lie­be.

Den­noch ent­steht nie der Ein­druck einer Dop­pe­lung und Ill­ouz ent­fal­tet die The­ma­tik auf ihre eige­ne Wei­se, so dass die Lek­tü­re bei­der Bücher unbe­dingt zu emp­feh­len ist. Schließ­lich beleuch­ten sie ein wei­tes Feld, das bis­her in der Sozio­lo­gie – von der Phi­lo­so­phie gar nicht zu reden – unter­be­lich­tet geblie­ben ist. Ill­ouz hat­te bereits die Frank­fur­ter Ador­no-Vor­le­sun­gen 2004 dem The­ma Gefüh­le in Zei­ten des Kapi­ta­lis­mus gewid­met und begrün­det, war­um die Sozio­lo­gie sich mit Emo­tio­nen beschäf­ti­gen soll­te, auch wenn sie „bis­her ganz gut“ ohne sie „aus­ge­kom­men ist“[1].

Ill­ouz glie­dert ihr Buch in neun Kapi­tel und neun Gefühle:

Hoff­nung – Ent­täu­schung – Neid – Zorn – Furcht – Nost­al­gie – Scham und Stolz – Eifer­sucht – Liebe.

Wäh­rend man bei Nuss­baum mehr zu den Emo­tio­nen des Mit­ge­fühls (com­pas­si­on) und des Ekels erfährt, bie­tet Ill­ouz über die „gemein­sa­men“ Emo­tio­nen hin­aus Ana­ly­sen von Hoff­nung, Ent­täu­schung, Nost­al­gie und Eifer­sucht.

Die Arbei­ten von Ill­ouz und Nuss­baum wir­ken der Ten­denz ent­ge­gen, Gefüh­le als etwas Pri­va­tes zu betrach­ten, was Rele­vanz nur für das Indi­vi­du­um und den Raum sei­ner per­sön­li­chen Bezie­hun­gen hat.

Für die poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung erwartet(e) man pri­mär einen Aus­tausch von Argu­men­ten, die viel­leicht mal von Emo­tio­nen beglei­tet wer­den, dabei aber nicht selbst zum The­ma wer­den. Inzwi­schen wis­sen wir nur zu gut, dass Politiker*innen gut bera­ten sind, Gefüh­le wie ins­be­son­de­re Angst und Zorn in den Blick zu neh­men, da sie Men­schen, Grup­pen und Par­tei­en erfas­sen kön­nen mit weit rei­chen­den Fol­gen. Vor allem aber gibt es popu­lis­ti­sche und gera­de­zu dem­ago­gi­sche Politiker*innen, die recht gut auf der Kla­via­tur mensch­li­cher Gefüh­le zu spie­len verstehen.
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Buch von Eva Illouz: Explosive Moderne

Eva Ill­ouz: Explo­si­ve Moder­ne, Suhr­kamp Ver­lag 2024.

Hoffnung

Eva Ill­ouz setzt ein bei der Emo­ti­on der Hoff­nung, durch die sie die Moder­ne auf eine spe­zi­fi­sche Wei­se gekenn­zeich­net sieht. Die eher ver­trös­ten­de und die Geduld stär­ken­de reli­giö­se Hoff­nung wur­de säku­la­ri­siert zu einer Hoff­nung, die einen Raum der Mög­lich­kei­ten ins Bild setzt und damit akti­vie­ren­de Wir­kung hat. Ill­ouz zitiert aus dem Anfang von Blochs Prin­zip Hoffnung:

Die Arbeit die­ses Affekts ver­langt Men­schen, die sich ins Wer­den­de tätig hin­ein­wer­fen, zu dem sie sel­ber gehö­ren. (Ernst Bloch)[2]

Selbst­er­mäch­ti­gung“ ist ange­sagt und dazu gehö­ren Begrif­fe wie »Ansprü­che«, »Ehr­geiz«, »Träu­me«, »Sehn­sucht«, »Stre­ben«. Aber es sind eben nicht nur die Ein­zel­nen, die sich ermäch­ti­gen, das­sel­be wird von der Gesell­schaft und Poli­tik erwar­tet und erhofft:

In ihrem Appell an ein unsicht­ba­res Gut, das noch aus­steht, aber durch mensch­li­ches Han­deln erreich­bar ist, bringt die Hoff­nung die Poli­tik an die Gren­ze der Spi­ri­tua­li­tät und eröff­net eine Poli­tik des Mög­li­chen, die in star­kem Gegen­satz zu einer Poli­tik der Wut, des Res­sen­ti­ments oder der Resi­gna­ti­on steht. (S. 52)

Wenn sich dem Ein­zel­nen nun Mög­lich­kei­ten eröff­nen, Chan­cen der Bil­dung, des wirt­schaft­li­chen und sozia­len Auf­stiegs, wer­den die Emo­tio­nen der Ent­täu­schung, auch des Nei­des an Viru­lenz gewin­nen. Das meri­to­kra­ti­sche Ver­spre­chen, dass Leis­tung belohnt wer­de, birgt eine dop­pel­te Ent­täu­schungs­ge­fahr: das eige­ne Ver­mö­gen kann sich doch als begrenzt erwei­sen oder das Ver­spre­chen kann sich als hoh­le Phra­se her­aus­stel­len, weil kei­nes­wegs Chan­cen­gleich­heit gege­ben ist. Ent­täu­schung und/oder Neid, viel­leicht auch Zorn sind die Folge.

Enttäuschung

Nach Ill­ouz „schwankt“ das moder­ne Selbst „zwi­schen dem Gefühl end­lo­ser Mög­lich­kei­ten und dem Ein­druck hart­nä­cki­ger Beschränkt­heit, zwi­schen Hoff­nung und Ent­täu­schung, zwi­schen Ermäch­ti­gung und Selbst­be­zich­ti­gung“ (S. 93). Das „Unbe­ha­gen in der Moder­ne“ sei „mit der Auf­for­de­rung ver­bun­den …, unzu­frie­den mit unse­rem Leben zu sein“ (S. 96). Dafür kann Ill­ouz exem­pla­risch an Madame Bova­ry erin­nern. Sie ist unzu­frie­den, möch­te mehr als das lang­wei­li­ge Leben neben einem Mann, der zufrie­den damit ist, in sei­nen Rol­len auf­zu­ge­hen. Ill­ouz zeigt u. a. mit die­sem lite­ra­ri­schen Bei­spiel über­zeu­gend auf, dass die Moder­ne eine bedrän­gen­de emo­tio­na­le Pro­blem­kon­stel­la­ti­on her­vor­ge­bracht hat. Und natür­lich nimmt sie Bezug auf das oft genug bit­ter ent­täusch­te Auf­stiegs­ver­spre­chen bzw. die ent­täusch­te Auf­stiegs­hoff­nung, wie sie von Öko­no­men und Sozio­lo­gin­nen ana­ly­siert wurden.
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Buch von Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus

Eva Ill­ouz: Gefüh­le in Zei­ten des Kapi­ta­lis­mus, suhr­kamp taschen­buch wis­sen­schaft 2423, Frank­furt 2023 (Ori­gi­nal­aus­ga­be 2006)

Neid

Hat sich das Pro­blem der Ent­täu­schungs­an­fäl­lig­keit ver­mut­lich par­al­lel zu dem gewach­se­nen Mög­lich­keits­raum ver­schärft, so scheint der Neid eine gera­de­zu arche­ty­pi­sche Kon­stan­te zu sein. Kain steht dafür eben­so wie Jago in Shake­speares Tra­gö­die Othel­lo. Wäh­rend Othel­los Eifer­sucht nicht zwangs­läu­fig die Inte­gri­tät sei­nes mora­li­schen Cha­rak­ters unter­gräbt, offen­bart Shake­speare Jagos Neid als das grö­ße­re Übel, „weit­aus zer­stö­re­ri­scher als ande­re Tod­sün­den wie Zorn, Hab­gier oder Träg­heit“ (S. 102). Nun erfährt der Neid in der Moder­ne aber ers­te posi­ti­ve Wer­tun­gen. Man­de­ville ist dafür mit sei­ner Bie­nen­fa­bel prägend.

„Täg­lich sehen wir, wie Men­schen durch kei­nen bes­se­ren Grund­satz als Neid aus Träg­heit und Müßig­gang auf­ge­rüt­telt und zu Wett­ei­fer und nütz­li­cher Arbeit ange­sta­chelt wer­den; und es wird all­ge­mein ange­nom­men, dass Begehr­lich­keit und Stolz die wich­tigs­ten Beför­de­rer von Han­del und Gewer­be sind …“ (Ber­nard Man­de­ville)[3]

Wäh­rend Nietz­sche (und ähn­lich auch Max Sche­ler) mein­te, das Res­sen­ti­ment, ein umfas­sen­der Neid, tar­ne sich nur als Anspruch auf Gleich­heit und Gerech­tig­keit, kri­ti­siert Ill­ouz die­se Sicht: „Sie nimmt die mora­li­sche Kraft des Ide­als der Gleich­heit nicht ernst genug, zu dem sich nicht nur Men­schen bekann­ten, die es nach Din­gen gelüs­te­te, die ihnen fehl­ten, son­dern auch Aris­to­kra­ten und wohl­ha­ben­de Bür­ger, denen es an nichts fehl­te.“ (S. 122)

Aller­dings kön­nen Res­sen­ti­ments dazu füh­ren, das nicht Erreich­te, etwa Bil­dung, abzu­wer­ten. Die „popu­lis­ti­sche Wut“ speist sich aus dem „Res­sen­ti­ment gegen­über Gebil­de­ten und Exper­ten“ (ebd.). Damit bewirkt der Neid eine Verschiebung:

Statt Bil­dung für alle zu for­dern, ver­höhnt er Bil­dung und Fach­wis­sen grund­sätz­lich. (S. 123)

Die­se Ana­ly­se von Ill­ouz ist ein schö­nes Bei­spiel dafür, wie sozi­al­psy­cho­lo­gi­sches Wis­sen zum Ver­ständ­nis einer poli­ti­schen Dyna­mik bei­tra­gen kann. Auch eine zwei­te Form des Neids zeigt sich in unse­rer poli­ti­schen Dis­kus­si­on: Die­ser Neid rich­tet sich „gegen Min­der­hei­ten, die durch geziel­te För­der­maß­nah­men“ pro­fi­tie­ren, etwa „eth­ni­sche, geschlecht­li­che und sexu­el­le Min­der­hei­ten“. Danach wür­den im Bei­spiel der USA „Frau­en, Afro­ame­ri­ka­nern, Behin­der­ten und ande­ren »Min­der­hei­ten« unge­recht­fer­tig­te »Wohl­ta­ten« zuflie­ßen.“ (S. 124–125) „Der Neid ist hier das Gegen­teil eines Pro­tests gegen Ungleich­heit“ (S. 125). Er will im Inter­es­se des Sta­tus­er­hal­tes einen Abstand zu den Außen­sei­tern erhal­ten wis­sen. „Die­se Art des Neids ist es, die poli­tisch die schäd­lichs­ten For­men annimmt.“ (S. 126)

„Somit ist Neid para­dox. Er begehrt, war ande­re besit­zen, er hasst, was ver­ach­te­te ande­re haben oder erlan­gen, doch liegt in die­sem Hass zugleich die Aner­ken­nung ihrer Über­le­gen­heit und damit der eige­nen Unter­le­gen­heit.“ (S. 133)

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Zorn

Aus dem Emp­fin­den von Unge­rech­tig­keit kön­nen sowohl Neid als auch Zorn ent­sprin­gen. Auch im Blick auf den Zorn erör­tert Ill­ouz lite­ra­ri­sche Moti­ve, die die psy­chi­sche und die rea­le Dyna­mik exem­pla­risch illus­trie­ren. Kleists Micha­el Kohl­haas führt den Kampf um Gerech­tig­keit zunächst mit lega­len, dann mit kri­mi­nel­len Mit­teln. Als er aufs Scha­fott geführt wird und die Mit­tei­lung vom Erfolg sei­nes Pro­zes­ses erhält, ist er „erfreut, dass der Gerech­tig­keit Genü­ge getan wur­de, und ergibt sich in sei­ne Hin­rich­tung.“ (S. 145)

Ill­ouz sieht sich erin­nert an den „Gemü­se­händ­ler Tarek al-Tay­eb Moha­med Boua­zi­zi“ der im Dezem­ber 2010 den sogen. Ara­bi­schen Früh­ling aus­ge­löst hat (S. 145). „Gerech­ter Zorn“ ist opfer­be­reit, der eige­ne Vor­teil muss nicht im Zen­trum stehen.

Zorn kann sich schnell aus­brei­ten, „weil er die Wahr­neh­mung der Ver­let­zung eines Moral­ko­de­xes in der Aus­übung der öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten und im Gesell­schafts­ver­trag aus­drückt, der die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger an die Insti­tu­tio­nen bin­det, wel­che ihr Leben bestim­men.“ (S. 146–147) Der „Über­gang von einem per­sön­li­chen Groll zu einem grup­pen­spe­zi­fi­schen Gefühl“ kann den Zorn in ein „radi­ka­les Akti­ons­pro­gramm“ ver­wan­deln. Zorn stößt nicht unbe­dingt ab, son­dern kann leicht als berech­tig­te Empö­rung gedeu­tet (oder miss­deu­tet) wer­den und dadurch Soli­da­ri­täts­ef­fek­te bewirken.

„Weil Zorn eine emi­nent poli­ti­sche Emo­ti­on ist und ande­re zu mobi­li­sie­ren ver­mag, hat eine Viel­zahl gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Grup­pie­run­gen ihre mora­li­schen Ansprü­che um Gefüh­le des Zorns orga­ni­siert …“ (S. 166). „Tat­säch­lich hat sich Empö­rung zu einem Zei­chen von Mora­li­tät ent­wi­ckelt.“ (S. 168)

Über­ra­schend mag die Anmer­kung wir­ken, dass aus Wut und Empö­rung  „manch­mal Ter­ro­ris­mus ent­steht“, dies „nichts­des­to­we­ni­ger von einem mora­li­schen Kern“ aus­ge­he (S. 150). Ill­ouz wider­spricht damit offen­kun­dig der Vor­stel­lung eines radi­kal Bösen, das nicht wei­ter „erklär­bar“ oder „ver­steh­bar“ wäre. Aber tat­säch­lich sind die Emo­tio­nen von Hoff­nung, Ent­täu­schung, Neid und Zorn „auf explo­si­ve Wei­se mit­ein­an­der ver­floch­ten“, wobei „Zorn unter allen nega­ti­ven Emo­tio­nen der stärks­te Antrieb für die Wäh­ler­schaft popu­lis­ti­scher Par­tei­en ist“ (S. 156f).

Angst

Eine ähn­li­che poli­ti­sche Rele­vanz hat aber auch die Angst.

Es lässt sich eine Fül­le von Bei­spie­len fin­den, in denen Herr­schen­de bzw. Regie­ren­de Bedro­hungs­sze­na­ri­en ent­wor­fen haben, um mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen oder gar Krie­ge zu recht­fer­ti­gen. So über­trieb die Regie­rung von Geor­ge W. Busch „die von Sad­dam Hus­s­eins ira­ki­schem Regime aus­ge­hen­de Gefahr erheb­lich, als sie behaup­te­te, der Irak ver­fü­ge über che­mi­sche und bio­lo­gi­sche Waf­fen, um ihren Angriff zu begrün­den.“ (S. 191) Zudem stell­te sie einen Zusam­men­hang zwi­schen Sad­dam Hus­sein und den Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 her. Ähn­li­ches gilt für Putins Recht­fer­ti­gung des Tsche­tsche­ni­en-Krie­ges durch die angeb­lich von Tsche­tsche­nen began­ge­nen Bom­ben­an­schlä­ge von 1999, und Ill­ouz nennt wei­te­re Bei­spie­le. Aber auch „Über­wa­chungs­maß­nah­men oder Geset­ze, die bür­ger­li­che Frei­hei­ten beschnei­den“, wer­den „typi­scher­wei­se … mit äuße­ren statt mit inne­ren Bedro­hun­gen und Befürch­tun­gen begrün­det“ (S. 192). Angst wird heu­te aber nicht nur von Regie­ren­den instru­men­ta­li­siert, sie wird auch von vie­len Grup­pen auf den sozia­len Medi­en als frucht­ba­res „Feld der Angst­ma­che­rei“ genutzt (S. 194), um Auf­merk­sam­keit zu wecken und mit einer Bot­schaft gehört zu wer­den. Ill­ouz meint sogar, „dass libe­ra­le Gesell­schaf­ten die Furcht … in eine umfas­sen­de Gefühls­struk­tur ver­wan­delt haben“ (S. 194). Ill­ouz weist zurecht dar­auf hin, dass „Furcht eine star­ke bio­lo­gi­sche Grund­la­ge auf­weist“ und damit über das Den­ken wie auch über ande­re Gefüh­le domi­nie­ren kann. Zudem zitiert sie Stu­di­en von Sozi­al­psy­cho­lo­gen, dass eine Grup­pe, die sich star­ken Bedro­hun­gen aus­ge­setzt sieht, drei Merk­ma­le auf­weist: „zuneh­men­der Respekt für Grup­pen­an­füh­rer, zuneh­men­de Idea­li­sie­rung von Bin­nen­wer­ten der Grup­pe und zuneh­men­de Sank­tio­nen für Abwei­chun­gen von grup­pen­ei­ge­nen Nor­men.“[4]

Von allen drei Fol­gen von Angst pro­fi­tie­ren popu­lis­ti­sche Par­tei­en, die „scham­los und unmit­tel­bar an vor­han­de­ne Ängs­te“ appel­lie­ren (S. 203).

Von den vie­len Fas­set­ten, die Ill­ouz bei der The­ma­ti­sie­rung von Nost­al­gie anspricht, sei hier nur eine her­aus­ge­grif­fen, die an das The­ma Zorn und Popu­lis­mus anschließt: Popu­lis­ten erwe­cken das Gefühl, sie könn­ten eine ver­gan­ge­ne Zeit wie­der­brin­gen. „Make Ame­ri­ca Gre­at Again“. Ganz ähn­lich wie Trump erweckt der rechts­extre­me Jour­na­list Éric Zemm­our in Frank­reich nost­al­gi­sche Gefüh­le und Erin­ne­run­gen an eine star­ke Nati­on. Damit wird das bit­ter­sü­ße Gefühl des Ver­lusts und der erträum­ten „Rück­ge­win­nung“ in Einem erweckt. Als lie­ßen sich Moder­ni­sie­rungs­pro­zes­se rück­gän­gig machen.
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Scham und Beschämung

Auch zu Scham und Beschä­mung erläu­tert Ill­ouz aus­sa­ge­kräf­ti­ge lite­ra­ri­sche Bei­spie­le, sozio­lo­gi­sche Ana­ly­sen und phi­lo­so­phi­sche Refle­xio­nen (u.a. Sart­re). Bemer­kens­wert ist sodann die von ihr zitier­te Fest­stel­lung von Gabri­el Bach, dem stell­ver­tre­ten­den Chef­an­klä­ger im Eich­mann-Pro­zess, dass bis zu die­sem Pro­zess die jun­gen Israe­lis „von den Neu­an­kömm­lin­gen aus den Lagern nicht über die Gräu­el [hät­ten] hören wol­len“, „weil die Jun­gen … sich geschämt hät­ten“. Das muss man wohl so ver­ste­hen, dass sie sich für die Ohn­macht der Ver­folg­ten schäm­ten. Gleich dar­auf führt Ill­ouz eine Stu­die an, die dar­stellt, wie „die Paläs­ti­nen­ser unter israe­li­scher Mili­tär­kon­trol­le und ‑herr­schaft mit einem anhal­ten­den Gefühl von Scham“ leben (S. 262). Scham und Beschä­mung sind aus dem Bewusst­sein ins­be­son­de­re des poli­ti­schen Dis­kur­ses weit­ge­hend ver­drängt. Es hängt aber viel davon ab, dass die destruk­ti­ve Kraft der Demü­ti­gung gebro­chen wird. Unter Umstän­den lässt sich Scham in Stolz ver­wan­deln; die #MeToo-Bewe­gung oder die Schwu­len­be­we­gung der 1980er Jah­re könn­ten als Bei­spie­le die­nen: „vom Ver­steck auf die Stra­ße, von scham­be­haf­tet zu öffent­lich und stolz.“ (S. 275) Stolz soll­te aber nicht „auf Dau­er gestellt“ wer­den und darf nicht „zur tra­gen­den Säu­le unse­rer Iden­ti­tät wer­den“ (S. 284).

Eifersucht

Mit der Emo­ti­on Eifer­sucht (und Aus­füh­run­gen über Prousts „Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit“) scheint sich Ill­ouz von der poli­ti­schen Rele­vanz zu ent­fer­nen, doch ist letzt­lich das Gegen­teil der Fall, denn sie the­ma­ti­siert die Ver­bun­den­heit von Eifer­sucht und Mono­ga­mie bzw. Patri­ar­chat. Sie scheint der The­se der zuzu­nei­gen, dass Eifer­sucht „sich … mit dem Ide­al der mono­ga­men Ehe und mit der Moder­ne selbst eta­bliert“ haben könn­te (S. 296). Sie beschreibt die männ­li­chen Besitz­an­sprü­che, die bei Gefähr­dung auch mit Gewalt durch­ge­setzt wer­den und sei es durch Mord. Wenn die Gewalt gegen die Part­ne­rin in „hot blood“ – aus Eifer­sucht – began­gen wur­de, konn­ten dies zur Redu­zie­rung des Straf­ma­ßes füh­ren. Eine Tötung wur­de dann statt als Mord als Tot­schlag geahn­det. Das Kapi­tel abschlie­ßend unter­schei­det Ill­ouz zwi­schen einer Eifer­sucht, die einen Besitz­an­spruch ein­schließt, und eine Eifer­sucht, die die Frei­heit des ande­ren aner­kennt, so schmerz­haft dies sein mag. Hier ist Eva Ill­ouz nahe dar­an anzu­er­ken­nen, dass die Dis­po­si­ti­on zur Eifer­sucht eine mensch­li­che Uni­ver­sa­lie dar­stellt, die aller­dings unter patri­ar­cha­len Bedin­gun­gen eine destruk­ti­ve Kraft entfaltet.

Liebe

Über­ra­schen­der­wei­se schließt Ill­ouz die Rei­he der Emo­tio­nen mit der Lie­be ab, ein schil­lern­des Wort und es wäre hier und da hilf­reich gewe­sen, den Begriff zu spe­zi­fi­zie­ren. Ill­ouz tut dies aber haupt­säch­lich im Blick auf die „roman­ti­sche Lie­be“, die oft genug mit den gesell­schaft­li­chen Nor­men hin­sicht­lich Bezie­hung, Ehe und Fami­lie in eine star­ke Span­nung gera­ten ist.  Kei­ne Kul­tur habe „die roman­ti­sche Lie­be so stark reprä­sen­tiert und gefei­ert wie die der west­li­chen Moder­ne“. Sie weist zwar selbst auf die Lie­bes­ly­rik von Sap­pho um 600 v. u. Z. hin, scheint aber doch die roman­ti­sche Lie­be für ein Kenn­zei­chen der Moder­ne zu hal­ten. Ver­ständ­lich, dass eine Sozio­lo­gin, die sich – bemer­kens­wert genug – mit Emo­tio­nen beschäf­tigt, doch die gesell­schaft­li­chen Prä­gun­gen die­ser Emo­tio­nen betont. Und gera­de die roman­ti­sche Lie­be haben auch Eth­no­lo­gen lan­ge für „ein typisch west­li­ches Kul­tur­pro­dukt“ gehal­ten. Wer von Ver­liebt­heit erfasst ist – und dies ist im Kern doch wohl mit roman­ti­scher Lie­be gemeint – wird sich aber schwer tun, sei­ne Gefüh­le als sozi­al kon­stru­iert zu emp­fin­den. Und inzwi­schen haben Anthro­po­lo­gen in nahe­zu allen unter­such­ten Kul­tu­ren Ver­liebt­heit bzw. roman­ti­sche Lie­be nach­wei­sen kön­nen. Der Eth­no­lo­ge Chris­toph Ant­wei­ler hat die­ser Fra­ge ein Kapi­tel gewid­met in sei­nem Buch Hei­mat Mensch. Was uns alle ver­bin­det.

Buch von Eva Illouz: Explosive Moderne

Eva Ill­ouz: Explo­si­ve Moder­ne, Suhr­kamp Ver­lag 2024.

[1] Eva Ill­ouz: Gefüh­le in Zei­ten des Kapi­ta­lis­mus, suhr­kamp taschen­buch wis­sen­schaft 2423, Frank­furt 2023, S. 9 (Ori­gi­nal­aus­ga­be Suhr­kamp Ver­lag 2006).
[2] Ernst Bloch: Das Prin­zip Hoff­nung, suhr­kamp taschen­buch wis­sen­schaft 554, Frank­furt 1985, S. 1 (Ori­gi­nal­aus­ga­be Suhr­kamp Ver­lag 1959).
[3] Ber­nard Man­de­ville: Free Thoughts on Reli­gi­on, the Church, and Natio­nal Hap­pi­ness, Lon­don 1720, S. 12, zit. nach Ill­ouz S. 102–103.
[4] Es han­delt sich um ein Zitat aus dem Buch von Clark McCau­ley und Sophia Moska­len­ko: Fric­tion. How Radi­cal­iza­ti­on Hap­pens to Them and Us, Oxford, New York 2011, S. 118, zit. nach Ill­ouz S. 198.